„Ich bin immer noch auf der Suche, wie ich es
besser und einfacher machen kann“.
Alfred Wittwar, 2016
Der Maler Alfred Wittwar 1927 – 2016
Von Oliver Gradel
Über die Jahrzehnte waren Werke Wittwars regelmäßig in Ausstellungen in ganz Deutschland zu sehen, allein zwischen 1953 und 1971 bei den großen Winterausstellungen der Bildenden Künstler von Rheinland und Westfalen im Düsseldorfer Ehrenhof. Die traditionsreiche Veranstaltung, die heute nur noch unter dem Titel „Die Große“ läuft, ist die maßgebliche Übersichtsausstellung über die aktuellen künstlerischen Entwicklungen und Hervorbringungen der Künstlerschaft in Nordrhein-Westfalen. Wittwars Werk ist aber zuerst in der Essener Kunstgeschichte zu verorten. Als Schnittstelle zwischen Rheinland und Westfalen und mit den verschiedenen Einrichtungen der Folkwang-Schule entfaltete sich in Essen in den Nachkriegsjahrzehnten eine lebendige Kunstszene, die zwar immer im Schatten der Kunststadt Düsseldorf stand, aber als Teil der Kunstregion Rhein-Ruhr insgesamt von immenser Bedeutung war. Eine große Wittwar-Retrospektivausstellung 2012 fand in Herne statt, seine letzte Ausstellung wurde 2016 in der Galerie im Evangelischen Krankenhaus ebenfalls in Herne eröffnet. Die Enttäuschung darüber, dass die Stadt Essen sich nicht für eine Einzelausstellung des Lebenswerks von Alfred Wittwar einsetzte, weder administrativ noch durch Ausstellungsräume, war da natürlich spürbar.
Große Verdienste um das Lebenswerk von Alfred Wittwar hat sich der Kunsthistoriker und Kulturkritiker Jörg Loskill erworben, der nur sechs Monate nach Wittwar gestorben ist. In einem Interview mit der WAZ hatte Wittwar 89-jährig und nur Monate vor seinem Tod geäußert, worauf es ihm in seiner Kunst stets ankam und auch in Zukunft ankommen solle: „Ich bin immer noch auf der Suche, wie ich es besser und einfacher machen kann“. Noch vor Ablauf der Ausstellung im Herner Krankenhaus ist Alfred Wittwar dann im Dezember 2016 gestorben. Dieser lapidare Satz ist ein Bekenntnis und Vermächtnis zugleich. In höchster Verdichtung und maximaler Altersweisheit, die immer ohne viele Worte auskommt, erscheint der Satz als Quintessenz seines Strebens. Es ist die stete Suche nach der angemessenen Form, die nie ans Ziel gelangt, und es ist die Erkenntnis, dass diese Form nur in der Verwirklichung von Einfachheit zu finden sei.
Alfred Wittwar hat in einem Interview 2007 die Haupteinflüsse seiner künstlerischen Tätigkeit als Maler hervorgehoben: zum einen die Natur, resultierend aus seiner Naturliebe, insbesondere seine „Leidenschaft für Lichtstimmungen auf dem italienischen Stiefel“, und zum anderen seine Beobachtungsgabe für Strukturen, Konstruktionen, Achsen, Formen. Damit ist ausgedrückt, dass mit wenigen Ausnahmen die Bildkompositionen des Künstlers vom Natureindruck ausgehen, d. h. von einem Motiv oder Gegenstand der sichtbaren Umwelt, die jedoch nicht zum Zweck einer Wirklichkeit simulierenden Darstellung ins Bild gesetzt werden. Es sind jene Strukturen, Konstruktionen, Achsen und Formen, die offengelegt werden, um vom konkreten Naturvorbild zu allgemeinen Aussagen über die Beschaffenheit der Welt und unsere Wahrnehmung zu gelangen.
Arbeitstechnik und Bildtitel
Wittwar arbeitete fast ausschließlich auf Papier, auch für Ölmalerei verwendete er, außer in der Anfangszeit, kaum Leinwand. Bei den meisten farbigen Malereien handelt es sich um Mischtechniken mit verschiedenen Bindemitteln und Farbkonsistenzen. Die Bilder sind oft auf einen größeren Untersatzkarton aufgelegt und punktuell fixiert. Auf dem Untersatzkarton finden sich in vielen Fällen mit Bleistift festgehaltene Bildtitel. Häufig finden sich sprechende Titel, die jedoch weniger auf den illustrativen Aspekt der Kunst bezogen werden können, sondern den Anlass oder Auslöser für die Bildfindung bezeichnen.
Das Problem der Bildtitel wurde von vielen Künstlern in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in die Bildschöpfung einbezogen, was oft vergessen wird, haben wir uns doch in der abstrakten Kunst an Hilfsbegriffe wie „Komposition“ oder gleich ganz „Ohne Titel“ mit der Steigerungsform „o. T.“ gewöhnt. Dabei haben zahlreiche deutsche Künstler der Moderne der Betitelung ihrer Werke viel Aufmerksamkeit gewidmet, und zwar gerade bei solchen Bildern, die man als gegenstandsfern bezeichnen muß. Die Titel haben keinen deskriptiven oder die Bildaussage erläuternden Charakter, sondern stellen eine eigene, die Bildkonstruktion bereichernde Sinnebene dar. Alfred Wittwar betitelte seine Werke fast durchgängig. Es gibt verschiedene Kategorien von Titeln. Man findet Angaben zum Bildinhalt, die sowohl gegenständliche Informationen oder landschaftlich-topografische Informationen enthalten. In ihnen darf man keine Einengung oder Fixierung der künstlerischen Darstellung sehen, da die Werke stets eigenständige und reine Kunstschöpfungen ohne primären Nachahmungscharakter sind. Solche der sichtbaren Umwelt entlehnten Motivvorgaben nennen dem Betrachter von Wittwars Malerei den Anlass, nicht den Zweck einer Darstellung. Das sollte sich der Betrachter vor Augen halten, um nicht den üblichen Pfaden von Wiedererkennen und Erinnerungswert zu verfallen, die ein wirkliches Einlassen auf die Ausdruckswerte der Kunst erschweren würde. Bei einem auf konstruktive Farbsetzung aufbauendem Bild, das ja durchaus gegenstandsbezogene Assoziationen erlaubt, ist es nicht erforderlich zu wissen, dass es sich um ein Haus oder eine Landschaft in einer bestimmten Gegend handelt. Denn das ist ja mit dem Bild gerade nicht mehr gemeint.
Andere Titel stellen Assoziationen im Zusammenhang mit dem Bild dar: Abend, Diagonal, Helles Haus, Spiegelung, Einblicke, Variation. Sie stehen offenkundig nicht in einem deskriptiven, sondern in einem poetischen Verhältnis zum Bild. Obwohl keine Äußerung Wittwars dazu überliefert ist, verhält es sich doch möglicherweise ähnlich wie bei dem informellen Künstler Bernard Schultze, der ebenfalls mit assoziativen Titeln arbeitete. In einem aufgezeichneten Gespräch mit dem Sammler Willi Kemp erläuterte Schultze zur Frage nach seinen Bildtiteln: „Oft ist das wirklich mit viel Nachdenken verbunden. Da bemühe ich mich sehr, den Zusammenklang zwischen Bild und Wort im poetischen Titel zu erreichen. Wenn Assoziationen durch bestimmte Formen auftreten, dann lasse ich das zu und das klingt manchmal im Titel an.“ (Die Sammlung Kemp, Kat. Düsseldorf 2001, S. 122).
Wege zur Kunst
1950 beteiligte Wittwar sich erstmals an einer Ausstellung in Essen. Seine Malerei gründet auf der jüngeren Tradition der Klassischen Moderne, besonders des Kubismus und des Expressionismus, während er den in der deutschen Nachkriegskunst weitgehend vollzogenen Bruch mit der gegenstandsbezogenen Darstellungsweise nicht mitging. Ab Ende der 1960er Jahre verstärkt sich jedoch auch bei ihm die Tendenz zur konkreten Kunst, in der die sichtbaren Erscheinungen der Umwelt als Anlass für eigenständige Bildrealisationen dienen, sie jedoch kaum mehr zum Ziel der Darstellung erhebt. Die Loslösung von der sichtbaren Umwelt geht bis zur reinen Abstraktion, die dann lediglich noch mit dem Titel Komposition versehen sein können.
Nach dem Schulabgang 1941 hat Wittwar den Umgang mit Farben zunächst als Handwerk erlernt, also als Anstreicher. Ob da bereits der innere Hang zur Kunst eine Rolle spielte, der aus der Not der Zeit heraus ins Praktische umgeleitet werden musste, ist nicht klar. Schnell scheinen ihn jedoch die gestalterischen Möglichkeiten des Malens gereizt zu haben, denn bald schon und noch im Krieg tat sich die Möglichkeit auf, der Kunstausübung in Abendkursen näherzukommen. In seiner Heimatstadt Essen gab es die Folkwang-Schule, die ursprünglich als Schule für darstellende Künste gegründet worden war, seit 1928 aber auch Fachbereiche für Gestaltung beinhaltete. Ab 1943 besuchte er dort Kurse bei Jo Pieper (1893-1971), der in der Kunstwelt schon eine Persönlichkeit war, und bei dem Zeichner und Illustrator Heinz Schubert. Figurenskizzen nach der Natur aus dem Jahr 1943, die im Zeichensaal der Folkwang-Schule entstanden sein mögen, zeigen die ersten Versuche des Sechzehnjährigen, der ein Talent in sich spürt und gewillt ist, es zur Entfaltung zu bringen. Dies ermöglichte ihm nach dem Krieg unmittelbar den Einstieg in einen Beruf, in dem er Malerei mit einer Nutzanwendung und mithin der Möglichkeit eines Brotberufs kombinieren konnte. Wittwar erhielt 1946 eine Anstellung als Theatermaler bei den Bühnen der Stadt Essen (Grillo-Theater), wo er Bühnedekorationen für Oper, Schauspiel und Ballett nach Entwürfen des Bühnenbildners im großen Format ausführte. Bis 1987 war Wittwar am Essener Opernhaus als Bühnenmaler tätig, zeitweise auch als Leiter des Malersaals.
Das Bedürfnis, als freier Künstler tätig sein zu können, seinem eigenen inneren Gestaltungswillen zu folgen, war damit jedoch noch nicht gestillt, vielleicht sogar erst richtig entfacht worden. So nahm er schon bald nach dem Krieg die berufsbegleitenden Studien bei Jo Pieper und Heinz Schubert in den Folkwang-Abendkursen wieder auf. Es begann nun die Doppelkarriere des Alfred Wittwar als Maler von Theaterdekorationen und als freier Maler. Da er mit dem Hauptberuf den Lebensunterhalt bestritt, blieb er als freier Künstler von wirtschaftlichen Notwendigkeiten unabhängig, d. h. er war letztlich nie gezwungen, Umsatz auf dem Kunstmarkt zu generieren. Er hat sich deshalb keinem Galeristen verschrieben, wie es für Künstler, die Renommee erwerben und auf dem Markt bestehen wollen, gemeinhin unumgänglich ist. Das einzige Netzwerk für Professionalisierung und Öffentlichkeitsarbeit, dem Wittwar sich dann aber auch über Jahrzehnte angliederte, war der Ruhrländische Künstlerbund (RKB).
Der RKB wurde 1949 in Essen gegründet als Interessengemeinschaft der regionalen Künstlerschaft, wie sie ähnlich in anderen Städten entstanden. Anfangs hatte er immerhin etwa 160 Mitglieder. Als nach und nach Architekten, Designer und Kunsthandwerker ausgeschieden waren, sank die Zahl bis 1960 auf gut 40 freie Künstler und blieb auf diesem Niveau dann über Jahrzehnte in etwa konstant. Als Ausstellungsort stand ab 1961 die wieder errichtete Alte Synagoge Essen zur Verfügung, seit 2002 das „Forum Kunst und Architektur“ am Kopsteinplatz.
Wittwar trat 1952 in den Ruhrländischen Künstlerbund ein, hatte sich aber schon an der ersten Ausstellung 1950 beteiligt. Das künstlerische Leben kam nach dem Krieg schnell wieder in Gang. Der überall gesuchte Neuanfang nach Krieg und Nazidiktatur fand Anknüpfungspunkte in der Kunst der 20er Jahre und der Klassischen Moderne. Traditionen des Bauhauses wurden wieder aufgegriffen. Zu den maßgeblichen Persönlichkeiten der Zeit gehörten der erste RKB-Vorsitzende Max Burchartz, Werner Graeff und Jo Pieper. Während Graeff sich der gegenstandslosen reinen Malerei widmete, wie er sie im Bauhaus und der Stijl-Bewegung kennengelernt hatte, blieb Jo Pieper der figürlichen expressionistischen Kunst verpflichtet. Man kann hier wohl von zwei grundsätzlichen Schulen sprechen, wie es auch in den zeitgenössischen Rezensionen der Ausstellungen in der WAZ der Anfangsjahre zum Ausdruck kommt, also zwischen der am Gegenständlichen festhaltenden und der rein abstrakten Darstellungsweise. Wittwar orientierte sich an seinem Lehrer Jo Pieper, was bei seinem Beruf als Bühnenmaler, wo Gegenständliches gefragt war, nahe lag.
In den frühen Ausstellungen des RKB wurden verschiedene Tendenzen deutlich. Viele verarbeiteten Motive aus Krieg, Zerstörung, Aufbau und Heimkehrerschicksal. Dieser politisch-soziale Ansatz lag Wittwar nicht. Er war 1943 zum Krieg eingezogen worden und kehrte 1946 aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft zurück. Über diese Erfahrungen sprach er ungern und sie waren ebenso aus seiner Kunst ausgeschlossen. Auch die allpräsenten Folgen der massiven Industrialisierung, die im Ruhrgebiet für Wirtschaftswunder und Landschaftszerstörung zugleich stand, wurden von einer Reihe von Künstlerkollegen thematisiert, fanden jedoch in Wittwars Schaffen keinen Ausdruck. Ganz im Gegensatz zur mediterranen Lebenswelt in Italien, die ihm ab etwa 1980 viele, besonders Landschaftsmotive geliefert hat. Das südliche Licht Italiens hat seine Malerei ganz elementar geprägt. Wittwar reiste regelmäßig nach Apulien, wo er in Peschici ein Domizil besaß. In Essen, wo er bis zum Schluß seinen Lebensmittelpunkt besaß, machte sich hingegen die Liebe zum Theater und zu den darstellenden Künsten insgesamt in zahlreichen Bildern bemerkbar, wie sie in Titeln wie „In der Manege“ oder „Kostümprobe“ ablesbar ist.
Wittwar hat sich den internationalen Tendenzen der gegenstandslosen Malerei, des Informel, nicht angeschlossen, so wie andere Künstler der Zeit auch im RKB. Er blieb der sichtbaren Umwelt verpflichtet, lotet die Möglichkeiten der reinen Bildkonstruktion jedoch weitgehend und bis an die Grenzen der Abstraktion aus. Die Motivgruppen, welche in künstlerische Umsetzungen eingeflossen sind, waren Landschaft, menschliche Figur, Stillleben, Architektur im Sinne von Haus und Stadt wie auch in Einzelformen von Tür, Fenster und Dach, und, gewissermaßen als Inhalt von Architektur, Mobiliar, Stuhl, Tisch. An all diesen sichtbaren Dingen der alltäglichen Erfahrung, die so einfach und selbstverständlich erscheinen, dass sie kaum wahrgenommen werden, die auch in der Geschichte der Kunst wieder und wieder von Malern ins Bild genommen wurden, erprobt Wittwar die Bedingungen von Wahrnehmung stets aufs Neue. Ihn treibt die jeweilige Erscheinungsweise von Gegenständen vor dem Auge und ihre bildliche Umsetzung um. Aber natürlich nicht im Sinne der eindimensionalen Nachahmung der Natur im Bild. Er konzentriert sich ganz auf die Mittel der reinen Kunst, Farbe und Form als elementare Ausdruckswerte, nicht als Hilfsmittel, um Gegenstände zu kopieren. Wittwar spürt dem inneren Zusammenhang der Erscheinungen nach, dekonstruiert die Erscheinungen, um sie dann im Bild mit den Mitteln der reinen Malerei neu zu konstruieren. Die Herangehensweise ist den Künstlern der Klassischen Moderne des frühen 20. Jahrhunderts verwandt. So erklärt sich Wittwars zitierte Suche danach, wie er es „einfacher machen kann“. Er will den Betrachter zu bewusster Wahrnehmung und Beachtung anhalten, zu einer neuen Hinterfragung der eigenen Sinne, in diesem Fall des Sehens. Komplexe Sinnzusammenhänge und Fragen an seine Zeit sind hier außen vor. Arbeit, Politik, Liebe, Krieg und Frieden, Grundmotive des menschlichen Daseins, hat Wittwar nicht künstlerisch aufgegriffen. Das einzige Lebensthema, das in sein Werk Eingang fand, war das Theater, der Ort, in dem er einen großen Teil seines eigenen Lebens zubrachte.
Das Frühwerk der 50er und 60er Jahre
Seit 1950 beteiligte sich Wittwar an Ausstellungen im Museum Folkwang, Kunstpalast Düsseldorf und der Gelsenkirchener Künstlerkolonie Halfmannshof und alljährlich im Rahmen des Ruhrländischen Künstlerbunds. Das früheste überlieferte Bildzeugnis stammt noch aus seiner Jugend, als er als Malerlehrling zusätzlich freiwillig Abendkurse an der Folkwang-Werkkunstschule belegte. Man wird sich hier in der Hauptsache Zeichenunterricht vorzustellen haben. Die Kohlezeichnung aus dem Jahr 1943 zeigt die Mutter des Künstlers sitzend mit niedergeschlagenen Augen und aufgestütztem Ellbogen. Man könnte die Haltung als nachdenklich sinnierend oder niedergeschlagen interpretieren, wahrscheinlich ist es einfach eine leicht gelangweilte Geduldsstellung, um für den Sohn als Modell stillzusitzen. Die Proportionen bereits gut im Griff, zeugt die Ausführung mittels einer Unmenge an unmotivierten Stricheleien von der Unsicherheit und Suche des 17-jährigen. Wesentlich konzentrierter erscheint die Bleistiftzeichnung eines liegenden Frauenaktes von 1948 (im Katalog irrtümlich 1943 angegeben). Anatomie wird hier auf Grundformen zurückgeführt, Schatten als Schraffuren eingesetzt. Das Bildverständnis der Klassischen Moderne, das in den nächsten zehn Jahren bestimmend blieb, deutet sich bereits an.
Fauvismus und Kubismus, auch Expressionismus als die zentralen Strömungen der Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts haben Wittwar deutlich beeinflusst. Als junger Maler benötigte er Anküpfungspunkte, auch sein Lehrer Jo Pieper kommt aus dieser Tradition. Wittwar selbst nannte Pablo Picasso, Giorgio Morandi, Willi Baumeister und Frans Masereel als Vorbilder. In den 1950er Jahren entstanden eine Reihe von Figuren- und Tierbildern mit klaren Bezügen der avantgardistischen Kunst der 1910er/20er Jahre. Eine Porträt seiner Frau Cara Nelly aus dem Jahr 1958 etwa könnte auch ein kubistisches Werk von Juan Gris sein. Es kommt nicht darauf an, die möglichen Quellen für einzelne Bilder oder Motive ausfindig zu machen. Sicher drängt sich das eine oder andere Mal ein vorbildhafter Künstlername auf und in der Kunstwissenschaft ist das Extrahieren von Einflüssen und Vorbildern immer eine beliebte Methode gewesen. Wichtig ist jedoch, dass Wittwar sich in einer kunsthistorischen Tradition sieht und nicht als umstürzender Neuerer, er war kein Verfechter des l’art pour l’art, der avantgardistischen Attitüde um jeden Preis. Auch ein Sendungsbewusstsein lag ihm fern: „Ich male nicht im Auftrag für eine Ideologie, für eine Moral, für eine politische Kaste. Ich male für mich, für meinen Weltkosmos, für mein Verständnis der Umwelt,“ hat er einmal gesagt.
Neue Wege in die Abstraktion
Seit Ende der 1950er Jahre verstärkt sich die Tendenz zur Formvereinfachung bis hin zur Abstraktion. Es ist eine vorübergehende, interessante Phase. Das „Stilleben“ von 1959 läßt Rudimente eine Bleistiftzeichnung erkennen, die Form rechts im Bild gibt dabei noch klar den Umriß eine Flasche an und läßt an ein Tischstillleben denken. Mit breitem Pinsel und gestischem Farbauftrag ging der Künstler an die Kolorierung, die jeden weiteren Gegenstandbezug unmöglich macht. In blau-weiß-roter Streifenlage mag sich noch die Assoziation einer Tischplatte einstellen. Darüber herrschen grau-blaue Farbe und Faktur als alleinige Träger der ästhetischen Erscheinung. Schön ist hier ablesbar, wie der Künstler eine Naturbeobachtung, hier ein Stillleben mit Flasche, zum Anlaß für eine reine Malerei nimmt. Das „Stilleben“ aus demselben Jahr 1959 enthält solche Anhaltspunkte für ein wiedererkennendes Sehen nicht mehr. Farbverläufe geben allgemeine Zustände an: dunkles Grau in der Horizontalen unten bedeutet Fläche, Auflage; darauf ruhen zwei weiße Formen, die nicht als bestimmte Gegenstände charakterisiert sind, sondern den Gegenstand des Stilllebens schlechthin repräsentieren, dahinter hellere Farblagen als Raum, Wand, Raumbegrenzung. Die Malerei lässt konkrete Gegenstandsangaben hinter sich und verlegt sich auf allgemeine Zustandsangaben wie Stehen, Gewicht, Objekt, Raum, Begrenzung.
Es war nur natürlich, dass Alfred Wittwar von den aktuellen Tendenzen des modernen Kunstbetriebs, die ihn umgaben, nicht unbeeindruckt blieb. In den 50er Jahren war das nahe gelegene Düsseldorf das Zentrum für künstlerische Innovation in ganz Deutschland. Gerhard Hoehme, Peter Brüning, Winfried Gaul und Rolf Sackenheim hatten hier 1953 die „Gruppe 53“ gegründet, wenig später kamen Bernard Schultze und Emil Schumacher hinzu. Die Kunstgeschichte spricht vom „Deutschen Informel“, das hier in diesen Jahren den Stand avantgardistischer Kunst markierte. 1959 wurde Karl Otto Götz an die Düsseldorfer Kunstakademie berufen und machte die Akademie zu einem Hort des Aufbruchs für eine ganze Generation von Künstlern. Die „Galerie 22“ und Galerie Schmela brachten dem Publikum die neuesten Tendenzen der Düsseldorfer Avantgarde näher.
Das „Deutsche Informel“ führte Wittwar ebenfalls zu einem neuen Experimentieren. Farbe wird vom beschreibenden Akzidenz zu einem absoluten Ausdrucksträger, die Bildfindung geht aus dem handelnden Akt hervor, d. h. aus der Tätigkeit des Malers, die in der Faktur als neuem Ausdrucksträger sichtbar wird. Der Akt des Malens selbst – und nichts anderes bedeutet letztlich das aus Amerika stammende Action painting – bestimmt den künstlerischen Schöpfungsakt, nicht mehr äußere Naturvorbilder. Eine Serie von gespachtelten formauflösenden Farbkompositionen Wittwars der frühen 60er Jahre knüpft hier an. 1964 liegt eines der frühesten Werke dieser reinen Malerei vor. Es wird vom Künstler nun erstmals schlicht als „Komposition“ bezeichnet. Ocker, Blau, Grau, Weiß und Schwarz sind mit dem Spachtel zu einem amorphen Gebilde aufgetürmt. An den Farblagen ist zu erkennen, dass das Bild von innen nach außen gemalt wurde. Im Zentrum liegen kleinteilige Farbfelder, die zu den Rändern hin von breiten Farblagen abgelöst werden. Man kann an Fliehkräfte denken, ähnlich wie bei einer Detonation, zugleich wird ein Ringen der warmen Ockertöne, die im Zentrum herrschen, mit kalten Blautönen, die zum Rand die Oberhand gewinnen, deutlich. Das Gemälde wurde vom Künstler als „Komposition V“ betitelt. Ein ähnliches Werk aus dem Jahr 1964, das anstelle der Ocker- und Blauwerte mit Grün- und Rotwerten arbeitet, trägt den Titel „Pflanzlich“. Er nimmt auf das dominierende Grün Bezug. Die zuvor als wertfrei, vielleicht sogar als zerstörerisch wahrgenommene Kraftentfaltung wird dadurch im positiven Sinne als Wachstum in der Natur interpretiert. Ohne Titel kommt ein Werk aus dem Jahr 1965 daher. In ihm dominiert Weiß über Blau, während Orange, das offensichtlich zuerst da war und an vielen Stellen durchscheint, nur noch in der rechten unteren Ecke ein letztes Mal aufflackert.
Künstlerisches Umfeld und Wechselwirkungen mit dem Theater
Näher als dem Düsseldorfer Internationalismus stand Wittwar der Essener Kunstszene, mit der er eng verbunden war. Gegenseitige Inspiration zwischen Künstlern ist unverkennbar. Wittwar nannte als wichtige Weggenossen Leo Bögel, den Theatermaler Horst Hagenström und Wolfgang Prager. Die Biografien überschneiden sich vielfältig und so auch die künstlerische Herangehensweise. Ein Beispiel dafür ist Leo Bögel (1915-1995), der sein ganzes Leben in Essen verbracht hat. Nach Kriegsteilnahme und Gefangenschaft gehörte er wie Wittwar zum Gründungspersonal der Nachkriegskunst in Essen und im Ruhrgebiet. Er studierte an der Düsseldorfer Kunstakademie (nichts Näheres bekannt) und war ab 1948 als freier Maler in Essen wirksam. Neben der Malerei schuf er Entwürfe für Glasfenster und Mosaiken, welche als „Kunst am Bau“ von öffentlichen Trägern im Sinne der Künstlerförderung beauftragt wurden. Auf diesem Gebiet, das für viele Künstler der 50er bis 70er Jahre eine wichtige Einnahmequelle darstellte, war Wittwar nicht tätig, da er über ein festes Einkommen verfügte. Bögels malerische Werke bewegen sich zwischen Figuration und Abstraktion und einer Anverwandlung der großen Vorbilder wie Picasso, Matisse und andere der klassischen Tradition. Auch bei ihm konnte sich seine Heimatstadt nicht zu einer groß angelegten Würdigung seines Lebenswerks entschließen. So fand die Retrospektivausstellung 2015 in einer Galerie in Münster statt und konnte dabei aus dem umfangreichen Nachlass auswählen, der in diesem Fall etwa 10.000 Arbeiten im Besitz des Sohnes des Künstlers umfasste.
Eine große Gruppe im Werk Wittwars bilden Kompositionen mit Figuren. Es sind menschliche Figuren, die eng in das künstlerische Konstrukt der Bildebene eingebunden sind. Individuelle Merkmale fehlen, sie haben keine Gesichter, Gliedmaßen sind stark schematisiert. Sie wirken wie Bewegungs- oder Gliederpuppen, die Künstler manchmal zum Studium von Anatomie und Bewegung verwenden. Bei Wittwar geht es um die Bewegung des Menschen im Raum, um grundsätzliche Bedingungen seiner Existenz in der Welt. Die Bilder stehen alle in Zusammenhang mit dem Theater- und Bühnenerlebnis, das den Künstler über Jahrzehnte begleitet hat und das erhebliche Rückkoppelungen zu seinem künstlerischen Werk bewirkt hat. Das Gefühl für Proportion und das Interesse an der Situation in Räumen, das mit der Beschäftigung mit dem Theater einherging, habe er künstlerisch erfasst, wie Wittwar im Gespräch erläuterte, und weiter: „Meinen Stil (…) habe ich durch diesen Brückenschlag zwischen Beruf (Theater) und Inspiration / Idee (freie Kunst) gefunden.“ So entstand z. B. 1990 das Bild mit dem Titel „Im Ballettsaal“. Vor einem strukturierten, nicht weiter ausdifferenzierten Hintergrund, der als Raumsituation gedeutet werden kann, sind zwei Figuren in Haltungen zu erkennen. Sie bestehen allein aus Rumpf und Extremitäten, Köpfe sind kaum angedeutet. Die Haltungen sind zweifellos nicht einer alltäglichen Situation entnommen, sondern bilden Chiffren für Ausdruck, Darstellung, Harmonie, Grazie. Die Situation Ballett, die der Titel angibt, wird dabei nicht ausdrücklich kenntlich gemacht, es ist vielmehr die künstlerische Form an sich in Verbindung mit dem menschlichen Körper.
Die Komposition „Figural“ stellt eine intensive Farbgestaltung mit strahlendem Orangerot vor, bei der sich aus der Fläche drei Giacometti ähnliche Gestalten herauslösen. Es bleibt uneindeutig, ob eine strukturierte Farbfläche vorliegt, die ein figurales Konstrukt freigibt, oder ob drei Personen / Schauspieler dastehen, deren Individualität soweit zurückgenommen ist, dass sie sich dem umgebenden Raum im Sinne einer künstlerischen Unterordnung voll ergeben. Wittwar geht von der menschlichen Figur im Raum aus, meditativ oder in Bewegung. Dabei wird eine Fläche formal und farblich ge- und zergliedert. Wittwar beschrieb dieses Verfahren als ein Prinzip der Malerei, seiner Malerei.
Bortoluzzi und das Licht des Südens
Für Generationen von Malern aus dem Norden war Italien ein Erweckungserlebnis, eine Italienreise hat fast immer tiefgreifende Spuren im Oeuvre hinterlassen und bei vielen Künstlern lässt sich eine Unterscheidung des Werks vor und nach dem Italienerlebnis treffen. Gerade bei Malern der Romantik im 19. Jahrhunderts ist letzteres der Fall. Immer wieder wird das Licht als der entscheidende Faktor genannt, der für den Nordländer die große Faszination des südlichen Himmels und der daraus folgenden sehr spezifischen Erscheinungsweise von Landschaft und Architektur ausmacht. Auch im Schaffen von Alfred Wittwar ist Italien als Auslöser von Bildern erkennbar. Er fühlte sich durch die „Landschaften von Lichtwelten“, wie er es nannte, immer wieder inspiriert und erklärte schlicht: „Da muß man ja malen.“ Auch wenn der Künstler mit der Wortwahl keine tiefgreifenden kunstphilosophischen Gedanken verband, trifft er die Sache doch unbeabsichtigt im Kern. Es heißt eben nicht, das muß man malen, dieses oder jenes schöne Motiv wiedergeben, sondern da muß man malen. Motive, Stimmungen und Lichterscheinungen liefern einen Anlaß zu einer künstlerischen Auseinandersetzung: „Dann sieht man in diesem prallen oder fahlen, dampfenden oder sanften Licht Dörfer, Häuser, Plätze, Türme, Bäume, Felder, Türen Fenster, Tore. Also male ich das, was ich sehe und vor allem, was ich bei dieser emotionalen Verfassung auch fühle.“
Die Beziehung zu Italien begann in der 1960er Jahren, doch erst nach 1980, als Wittwar ein eigenes Haus in Peschici besaß, entstand ein umfangreicheres italienisches Werk. Nach Peschici auf der Halbinsel Il Gargano, seiner zweiten Heimat, gelangte er durch seinen 20 Jahre älteren Freund und Kollegen Alfredo Bortoluzzi (1905-1995). Der Maler, Choreograf und Bühnenbildner Bortoluzzi hat den künstlerischen Werdegang Wittwars wie kein anderer beeinflusst. Er wurde als Sohn italienischer Einwanderer in Karlsruhe geboren und besuchte in den 1920er Jahren die Karlsruher Kunstschule und ab 1927 das Bauhaus in Dessau. Neben Kandinsky und Klee wurde Oskar Schlemmer sein hauptsächlicher Lehrer, der die Bühnenklasse im Bauhaus leitete und ihn zum Theater führte. Wie bei Wittwar war das gesamte künstlerische Leben Bortoluzzis durch die Verbindung von Malerei und Theaterkunst geprägt. Nach ersten Erfolgen war Bortoluzzi während der Nazizeit gezwungen, die Malerei aufzugeben, weil er als Bauhausschüler mit moderner Ausrichtung unter das Verdikt der entarteten Kunst fiel. Möglich war es ihm jedoch in den späten 1930er Jahren, als Tänzer und Bühnenbildner zu arbeiten. Diese Tätigkeiten setzte er nach dem Krieg fort und kam so auch an die Essener Bühnen, wo er in den 50er Jahren Ballettmeister war. Aber er begann nun auch sofort wieder zu malen. Schon ab 1946 war er an Ausstellungen beteiligt. Große Beachtung erfuhr er als ehemaliger Bauhausschüler in Italien, wo er heute wesentlich bekannter ist als in Deutschland. Ende der 1950er Jahre zog Bortoloúzzi nach Peschici in Süditalien, wo er bis zu seinem Tod 1995 lebte. 2009 erwarb eine Stiftung in Foggia seinen künstlerischen Nachlaß, der seither erschlossen und in Einzelaspekten immer wieder ausgestellt wird.
Über den Freund Bortoluzzi gelangte auch Wittwar nach Peschici, wo sich eine kleine Künstlerschaft niedergelassen hatte. In Italien entstanden über den langen Zeitraum von über 30 Jahren eine Reihe von Bildern, die durch Bauwerke inspiriert wurden und sehr schön das Anliegen bezeugen, das der Künstler selbst formuliert hat, nämlich, Strukturen, Konstruktionen, Achsen und Formen nachzuspüren und aufzuzeigen. Exemplarisch für eine Reihe italienischer Bilder mit Architekturdarstellungen ist das Bild „Fassade in Vico“ aus dem Jahr 1993. Auf dem nahezu quadratischen Gemälde erkennt man Horizontalen und Vertikalen als Verkörperung von Stütze und Last, dem Grundprinzip klassischer Architektur, und weitere Diagonalen und Dreiecke. Diesen allesamt konstruktiven Elementen steht oben ein Kreis entgegen. Der Kreis weckt Assoziationen zu Leben, Kreislauf, Sonne, während die geraden Formen für das Geplante, Gebaute, Geordnete stehen. Der Titel des Bildes „Fassade in Vico“ verweist auf den Ausgangspunkt der weitgehend abstrakten Komposition. Es sind die Sinneseindrücke und Empfindungen, die den Künstler angesichts eines kleinteilig verschachtelten italienisches Dorfs umfingen. Vico del Gargano ist eines der typischen aus vielen kleinen Häusern scheinbar wahllos auf einem Hügel angehäuften Dörfer in Italien. Gekrönt wird die Dorfsilhouette durch die kleine rote Kuppel der Kirche, aber natürlich auch von Zeit zu Zeit von einer untergehenden Sonne, die die Szenerie in magisches rötliches Licht taucht. Beides kann mit dem Kreis im Bild gemeint sein. Die Farbstimmung aus überwiegenden Gelb-, Orange und Rottönen sowie wenigen hellblauen Feldern geben die Situation wieder, in der das Blau auf Meer oder Himmel referieren kann, dass aber zugleich im Rahmen der Farblehre für eine räumliche Erscheinung verantwortlich ist. Demnach kommen warme Töne im Bild (also z. B. Rot) optisch auf den Betrachter zu, während kalte Farben (Blau) zurückweichen.
Nach einem großen Wunsch gefragt, den man mit viel Geld verwirklichen könne, antwortete Wittwar einmal, dass er ein Museum für seine Bildersammlung einrichten würde, in dem er täglich dem Universum seines Lebens begegnen könne. Dazu wird es nicht mehr kommen. Sein Werk wird jedoch, so bleibt zu hoffen, als Teil eines schöpferischen Erbes im Bewusstsein der kunstinteressierten Öffentlichkeit anerkannt und in Zukunft auch seine Sammler und Liebhaber finden.
Zitate des Künstlers sind dem Gespräch entnommen, das Jörg Loskill 2007 mit Alfred Wittwar führte, abgedruckt in: Jörg Loskill (Hg.), Alfred Wittwar, ein Malerleben, Wiehl o. J. (ca. 2007)
Kunsthandel Alexander Stradmann
Meerbuscher Strasse 155 40670 Meerbusch Telefon: 0211.4955866 info@kunsthandel-stradmann.de.
www.kunsthandel-stradmann.de www.gemaelde-ankauf-duesseldorf.de